Schockt Joël Thüring überhaupt noch jemanden in Basel?

Auf Twitter äussert sich SVP-Grossrat Joël Thüring diffamierend gegen den erschossenen 17-Jährigen aus Nanterre. In Basel scheint das kaum jemanden zu empören. Dabei ist Thürings Statement nicht normal und liegt auch für einen rechten Politiker jenseits des moralisch Vertretbaren, meint Co-Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Joel Thüring Collage Kommentar
Es ist nichts Besonderes, dass sich Joël Thüring in den Basler Medien äussert. Zu Recht?

Wie abgestumpft bin ich gegenüber der SVP geworden? Wann habe ich angefangen zu akzeptieren, dass «die eben so sind» und sich immer wieder fremdenfeindlich äussern? Wann sollte ich eine geschmacklose Äusserung aufgreifen und anprangern, und wann ist es zu viel, weil ich damit einfach nur rechte Partei-Propaganda verbreiten würde? Es gäbe genug Stoff, um genau das täglich zu tun. Ich bin keine Aktivistin, sondern Journalistin. Ich ordne ein, ich engagiere mich nicht für oder gegen eine Partei. Inwieweit kann ich also neutral sein bzw. ignorieren, was gewählte Vertreter*innen von sich geben? Seit ein paar Tagen geistern mir diese Fragen im Kopf herum. Ausgelöst hat dies eine Äusserung von SVP-Grossrat Joël Thüring. Auf Twitter hat der Politiker einen Artikel der Bild-Zeitung geteilt, in dem Informationen zum erschossenen 17-jährigen Nahel aus Nanterre ausgebreitet werden. Ein «polizeibekannter Schulabbrecher» sei er gewesen, heisst es in der Überschrift. Thüring schreibt dazu: «Jetzt kommt raus: Langes Vorstrafenregister, mutmasslicher Drogendealer. Auch er ein Teil der Massenmigration nach Europa, die längst gescheitert ist. Wie schuldig war der Polizist tatsächlich?»  Was Thüring mit diesem Kommentar suggeriert: Der Jugendliche, noch nicht volljährig, ist ein Geflüchteter mit Vorstrafen, deshalb ist es weniger schlimm, dass es zum tödlichen Schuss durch den Polizisten kam. Ein Mensch zweiter Klasse ist gestorben, so tönt es. Es hört sich fast so an, als hätte der Teenager seinen Tod herausgefordert, als sei der Polizist schon auch im Recht, auf die Brust eines Minderjährigen zu zielen und tatsächlich abzufeuern. 

Solch ein Statement ist nicht normal und liegt auch für einen rechten Politiker jenseits des moralisch Vertretbaren.

Als ich den Tweet zuerst in meiner Timeline gesehen habe, ärgerte ich mich und fand es abstossend, aber eben: nicht überraschend. Ich bewertete es als den üblichen SVP-Sprech und scrollte weiter. Bloss nicht retweeten und kommentieren, dachte ich, sonst lesen noch mehr Leute als sowieso schon diese diffamierende Aussage über ein Kind. Das ist der Punkt: Ich empfand die Aussage als für die SVP im Rahmen des Normalen. Dabei ist solch ein Statement nicht normal und liegt auch für einen rechten Politiker jenseits des moralisch Vertretbaren. Ich habe mich wohl daran gewöhnt, zu hören, dass «zu viele und die falschen Ausländer» in die Schweiz kommen. Dass es ein «Asylchaos» gebe, dass «Dichtestress» herrsche und das Land «aus allen Nähten» platze. Jetzt, da die nationalen Wahlen anstehen, scheint hängen zu bleiben, was seit Monaten gebetsmühlenartig wiederholt wird, und die SVP legt bei den Wähler*innen zu

Bürgerlich oder am rechten Rand?

Joël Thüring schockt mich scheinbar auch nicht mehr. Schockt er überhaupt jemanden in Basel? Er wurde gewählt von der Basler Stimmbevölkerung, sitzt im Basler Parlament, wurde gerade in den Bürgergemeinderat gewählt, ist also vom Souverän legitimiert, zu politisieren. Thüring schreibt eine Kolumne bei der Basler Zeitung, es ist nichts Besonderes, dass er sich in den Medien äussert. Auch bei Bajour kommentiert er regelmässig bei der Frage des Tages oder wird zitiert als Mitglied der Kulturkommission. Alles im Sinne der Ausgewogenheit: Linke wie Bürgerliche sollen in journalistischen Artikeln zu Wort kommen. Aber ist die SVP, immerhin die grösste Partei des Landes, wirklich bürgerlich oder – zumindest in Teilen – am äusseren rechten Rand einzuordnen? Auf Twitter macht sich Thüring lustig darüber, dass es jetzt einen Shitstorm gegen ihn gebe. Er habe sich doch nur erlaubt, «festzuhalten, dass ein Polizist, der einen vor der Kontrolle fliehenden bekannten Kleinkriminellen aus dem Maghreb erschoss, einen fairen Prozess verdient hat und Fragen offen sind.» Thüring verwässert seine vorherige Aussage und wieder stellt er die Nationalität eines Todesopfers in den Mittelpunkt, um diese politisch zu nutzen. Er stellt eben nicht nur Fragen, er unterstellt und diskriminiert. Wie also gehen wir (Basler) Medien damit um? Totschweigen? Tolerieren? Aktiv ausgrenzen? Weitermachen wie bisher geht nicht. 

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Bei Bajour als: Co-Chefredaktorin, zusammen mit Kollegin Valerie Zaslawski

Davor: Redaktorin am Newsdesk von ntv.de in Berlin, Volontärin/rasende Lokalreporterin in Bremen

Das kann ich: Geduldig sein und nachhaken

Das kann ich nicht (gut): Baseldytsch sprechen

Liebt an Basel: Die kurzen Wege und die Gemütlichkeit

Vermisst in Basel: Ein norddeutsches «Moin!»

Kontakt: [email protected]

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